Bloss kein behindertes Kind!

Moderatorin Hanna
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Blog von Nils Pickert am 28. September 2015
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Kinder mit Behinderungen sind kein gern gesehenes Thema – dafür aber umso wichtiger. Denn während die einen sich kaum getrauen darüber nachzudenken, leben andere damit.

Meine grosse Tochter war gerade erst geboren, kaum ein paar Sekunden alt. Ich und die Frau, die diese Tat soeben vollbracht hatte, konnten wieder halbwegs geradeaus denken und wollten endlich unser Baby sehen. Haben. Halten. Aber das Geburtsteam hatte uns den Rücken zugewandt und machte irgendwelche Untersuchungen mit Emma. Murmelten sich gedämpft irgendwelche Medizinersachen zu. Von Emma kein Mucks. Eine kleine Ewigkeit. Und kurz bevor sie uns mit einem entspannten, aber bestimmten Laut aus der allmählich einsetzenden Schockstarre riss, stand der Gedanke so klar wie nie zuvor in meinem Kopf. Der Gedanke, an den ich mich schon gewöhnt hatte und der einfach nie ganz abzuschütteln war. Der «Fuck, irgendetwas ist nicht in Ordnung!»-Gedanke. Der war mir nur zu bekannt. Unter anderem von der Feindiagnostik Monate zuvor in einer der besseren Gegenden Berlins. Eine sehr verzweifelt wirkende Schwangere sass mit uns im Wartezimmer. Und während wir in ein anderes Stockwerk geführt wurden, wo ein aufgeräumter Arzt für uns Babykino in Farbe veranstaltete, stellte ich mir vor, wie sich die Untersuchung wohl für diese Frau anfühlen muss.
«Und da das Herz…und da ist der Oberschenkelknochen… und da ist die ziemlich volle Blase.»
Ich wollte die Details gar nicht mehr wissen. Ich wollte ihn einfach nur noch sagen hören, dass alles sehr gut und der Norm entsprechend aussieht. Genau das sagte er dann auch. Ebenso wie das Geburtsteam im Krankenhaus, nachdem sie fertig mit ihren Untersuchungen waren. Aber sie hätten auch etwas ganz anderes sagen können. Und was dann?!

Eine, die diese und andere Fragen beantworten kann, ist die Journalistin und Bloggerin Mareice Kaiser (https://twitter.com/Mareicares)
die mit den zwei kleinen Kaiserinnen und dem dazugehörigen Papa in Berlin lebt und über ihren Familienalltag schreibt, der unter anderem auch davon geprägt ist, dass Kaiserin 1 einen seltenen Chromosomenfehler hat. (http://kaiserinnenreich.de/)

Und was dann?
Hat man deswegen Schuldgefühle?
Wohin mit der Wut?
Was ist mit einem zweiten Kind?
Wieso ist ein Kind mit Behinderung ein Gespenst?
(http://umstandslos.com/2015/09/25/mein-kind-das-gespenst/)

Fragen, die ich und andere sich kaum zu denken trauen, weil sie Angst haben, ihnen damit zu viel Realität zu verleihen. Doch genau auf diese Angst und den Umgang mit ihr kommt es an. Denn Inklusion besteht eben nicht nur daraus, dass wir als Gesellschaft unserer Verpflichtung in puncto Teilhabe und Verantwortung gerecht werden und uns dazu bekennen, integrativ statt ausgrenzend zu handeln. Inklusion muss sich auch mit dieser Angst auseinandersetzen. Mit der Befürchtung «dem allem» nicht gewachsen zu sein. Mit dem Umstand, dass wir unser Miteinander durch so viele normierende Angleichungsprozesse gestalten, dass uns die schiere Existenz einer Abweichung der Norm verstört und wir sie aus unseren Leben drängen wollen.

Es gibt tatsächlich Tage, da habe ich Angst, das Blog von Mareice Kaiser zu lesen. Und dann mache ich es trotzdem – genau deswegen.
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Du kannst den Blog auch auf der «wir eltern»-Website lesen unter: http://www.wireltern.ch/artikel/blog-bloss-kein-behindertes-kind

Frau
Dabei seit: 11.04.2014
Beiträge: 43
Wenn man in einer Beziehung lebt, muss man sich natürlich Gedanken machen, was man unternehmen würde, wenn beim Fötus ein Problem festgestellt wird, das zu einer Behinderung führt. Für meinen damaligen Freund und mich war immer klar, dass wir abtreiben würden. Zwar bewundere ich Leute, die dies auf sich nehmen, aber noch mehr habe ich völliges Unverständnis. Meist ist es ja so, dass die Behinderten in ein Heim abgeschoben werden. Was soll das? Vor vielen Jahren war das natürlich so, dass man eine Behinderung nicht voraussehen konnte, aber heute gibt es so zuverlässige Pränatests, dass es eigentlich keine Rechtfertigung mehr geben kann, nicht abzutreiben. Manche fürchteten sich vor der FWU, weil sie einen gesunden Föten beschädigen könnte, aber auch das ist ja heute mit dem einfachen Bluttest ausgeschlossen. Erfreulich, dass auch der Gesetzgeber mitspielt und bei positivem Testausgang die Fristenregelung aufhebt. Es hat sich viel getan. Es kommt sicher nicht von ungefähr, dass nun etwa 90% der Trisiomiefälle abgetrieben werden können.
nanny72
Dabei seit: 21.05.2006
Beiträge: 998
Geniesserin
punkt 1:
nicht alle Behinderungen und Krankheiten können getestet werden
punkt 2:
diese tests nicht immer zu 100% sicher. kommt immer wieder vor, das kinder gesund zur welt kommen, obwohl der test eine Behinderung ergeben hat und umgekehrt.
punkt 3
Behinderungen können auch durch Krankheiten, unfälle, sauerstofmangel zb bei der Geburt, ect entstehen

Frau
Dabei seit: 11.04.2014
Beiträge: 43
Liebe Hanni

Muss dir in fast allem recht geben, nämlich:

ad 1: Stimmt so, doch man kann zuversichtlich sein, dass die Forschung auf diesem Gebiet weiter grosse Fortschritte macht wie in den vergangenen Jahrzehnten und die Lücken geschlossen werden können.

ad 2: Die bestehenden Tests haben eine grosse Zuverlässigkeit (fast 100%). Geht etwas doch schief, wird das unendlich aufgebauscht. Wer beispielsweise dem positiven Resultat des Trisomiebluttests nicht traut, kann immer noch danach eine FWU machen zur Bestätigung des Resultats des Bluttests.

ad 3: Klar können immer Behinderungen auftreten, sogar schon bei der Geburt oder später durch Unfälle etc.. Da sind dann die richtigen Therapien und Pflege angesagt. Versteht sich. Aber das ist ja nicht zu vergleichen mit Defekten, die schon VOR der Geburt erkannt werden, wo man eben entgegen wirken kann, und das völlig im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten. Dazu ist ja die Aufhebung der Fristenlösung vorgesehen.

LG
GabrielaA
Dabei seit: 18.10.2002
Beiträge: 5446
@Geniesserin: 1. werden Kinder, welche eine Behinderung haben wohl in den seltesten Fällen in ein Heim abgeschoben.

Eine Behinderung ist ein so grosser Begriff. Mein Sohn besucht eine Sonderschule mit körperbehinderten Kindern. Da hat es vom äusseren Eindruck her, die ganz normalen, bis solche im Rollstuhl. Ich kenne persönlich eine Familie, welche ebenfalls prenatanale Tests machen liessen, da die Frau ü 35 war. Alles i.o. hiess es. Ihnen erging es wohl ganz ähnlich bei der Geburt, wie im Blogg geschrieben. Ihr Kind hatte ein Herzfehler und ein Genfehler, dh. es kam nur mit einer ausgewachsenen Hand zur Welt. Auf keinem US Bild, noch mit einem vorgeburtlichen Tests war das erkennbar. Dieses Kind ist heute ein junger Erwachsener. Im Berufsleben und hat gelernt, mit dieser Behinderung umzugehen. Mehrere Herzoperationen hatte es über sich ergehen lassen. Bereits im Kleinkindalter.

Was nun? Wenn klar ist, wie für dich, dass ein Kind, welches behindert ist, abgetrieben wird, doch du erwartest ein scheinbar gesundes Kind, welches behindert zur Welt kommt, schiebst du es ab in ein Heim?

Haben denn behinderte Kinder nicht auch ein Recht zum Leben?

Oder du bringst ein gesundes Kind zur Welt. Später erleidet es einen schweren Unfall, das Gehirn wird während längerer Zeit mit zuwenig Sauerstoff versorgt. Es wird an eine Maschine angeschlossen, es ist unklar, ob es überlebt. Wenn es überlebt, ist das Gehirn (schwer) geschädigt. Was tust du? Stellst du die Maschine wieder ab?
kaye
Dabei seit: 25.11.2009
Beiträge: 963
Ein Kind, das schon da ist, tötet man nicht. Das ist seit den Nazis zum Glück keine Frage mehr. Aber darf man oder sollte man ein Kind töten, das noch im Uterus ist, weil es vielleicht beeinträchtigt ist? Ab wann ist es ein Kind mit Lebensrecht? Für mich ist das ganz klar: jedes Kind soll die Chance auf Leben haben. Wir wissen ja nicht sicher voraus, ob es leben will, ob es glücklich sein kann oder sehr schwer leiden muss. Das wissen wir bei keinem Menschen. Im Zweifel für das Kind.
Wenn man im Zweifel oder im vermeintlichen Wissen eines Pränataltests gegen das Kind entscheidet, behandelt man es wie einen Gegenstand.
taraxacum
Dabei seit: 27.01.2004
Beiträge: 1317
Wann bin ich behindert - wann bin ich normal? Brillenträger? Höhrbehinderung? Trisomie 21? Nierendefekt? O-Beine? geboren mit (nur) einem Arm?....

Mit dem Gedanken an eigene Kinder, tauchen viele Fragen auf. Ängste. Der Wunsch nach Normalität. Der Wunsch der Teilhabe. Der Wunsch nach einem härzigen Kind. Der Wunsch nach Glück. Der Wunsch nach Vollkommenheit.

Medizinische Tests ermöglichen heute, bereits während der Schwangerschaft bestimmte Parameter zu testen. Dadurch entstehen für die werdenden Eltern Entscheidungsoptionen. Diese sind wiederum geprägt von den eingangs Erwähnten Wünschen/Gedanken. Die werdenden Eltern entscheiden über das Leben des Kindes. Ein ethischer Entscheid. Emotional und gleichzeitig pragmatisch. Ausser Acht gelassen muss dabei, wie es dem lebenden Kind gehen würde. Wäre es glücklich? Könnte es teilhaben? ....

Ich arbeite mit behinderten Kindern. Auf mich machen sie grossmehrheitlich einen äusserst glücklichen Eindruck. Die Auseinandersetzung mit ihrer Behinderung, mit ihren Einschränkungen, mit ihren begrenzten Möglichkeiten finden genau so statt, wie bei "normalen" Kindern. Sie pubertieren. Sie verlieben sich. Sie setzen sich mit den Möglichkeiten in der Arbeitswelt auseinander. Sie sind traurig. Sie lösen sich vom Elternhaus. Sie bocken, trotzen, keifen. Alles normal?

Es gibt Eltern, die zerbrechen an der Tatsache, einem behinderten Kind das Leben geschenkt zu haben. Beziehungen brechen auseinander. Eltern klammern. Wut, Trauer, Freude. Glück darüber, das Kind begleiten zu dürfen. An der Aufgabe wachsen. Stolz sein über kleine Entwicklungsschritte. Eltern behinderter Kinder setzen sich mit gleichen Themen auseinander, wie Eltern "normaler" Kinder. Zum Teil intensiver. Belasteter. Glücklicher. Alles normal?

Für mich kam eine Abtreibung nie in Frage. Aus diesem Grund habe ich mich bewusst gegen jegliche Art von pränatalen Tests entschieden.

Wisse immer was du sagst, aber sage nicht immer, was du weisst.
Blue64
Dabei seit: 20.08.2003
Beiträge: 1456
Geniesserin, du scheinst wenig darüber nachzudenken, was du so von dir gibst, denn nein, das Gesetz der Fristenlösung wurde nicht für Frauen wie dich gemacht, die selektiv und oberflächlich durchs Leben stolpern, sondern für Frauen, die in einer für sie ausweglosen Situation ungewollt schwanger werden!

Und Behinderung zu werten, den Zeitpunkt zu werten, wann eine Behinderung auftritt, zeigt von einer Geisteshaltung, die ihresgleichen sucht und deine intellektuelle Nichtfähigkeit sogar noch in den Schatten stellt!

Ich denke, also bin ich hier falsch !
second2
Dabei seit: 01.06.2012
Beiträge: 815
@geniesserin

Na, dein Nick spricht ja schon für sich selbst! Du willst wohl das Leben geniessen und selber entscheiden, wie Du es geniesst.

Auch wenn Du Dich während der Schwangerschaft gegen ein behindertes Kind entschieden hättest (was ich in manchen Situationen auch verstehe und auch gemacht hätte), früher oder später kann Dich die Realität wieder einholen, mit einem Unfall, mit einer Krankheit, die erst später auftritt. Einen Garantieschein fürs perfekte, behinderungslose Leben Deines Kindes kannst Du trotz aller vorgeburtlicher Untersuchungen nirgendes erhalten!

Und manche Behinderungen, die man vor der Geburt sehen kann, sind später im Leben viel weniger einschränkend als eben Krankheiten oder Unfälle später mal sein können.

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Tapa
Dabei seit: 19.05.2015
Beiträge: 7
Das Leben mit meinem besonderen Sohn hat mich, so finde ich auf jeden Fall, zu einem stärkeren und mutigeren Menschen gemacht. Auch wenn es zermürbende Tage gibt, nie würde ich es anders wollen. In jedem Menschen steckt Schönheit und Talent. Es ist an uns zu lernen, diese zu sehen.