Vor 20 Jahren hatte ich eine Bekannte, die im selben Ort lebte, wie ich. Etwa ein Jahr vor mir brachte sie ihr erstes Kind zur Welt. Wir hatten aber privat keinen Kontakt, sondern unterhielten uns, wenn wir uns mal trafen.
So berichtete sie mir freudestrahlend, dass sie mit dem 2. Kind schwanger sei. Sie nannte auch den Geburtstermin, den ich aber nicht mehr genau wusste. Eines Tages, als ich mit meinem Kind spazieren ging, klingelte ich spontan bei ihr. Ich überlegte noch, ob sie ihr Baby wohl schon hat.
Eine fremde Frau öffnete mir die Türe. Als ich nach der Kollegin fragte, ging die Frau, fast unfreundlich rein und rief sie. Das fand ich merkwürdig und spürte, dass etwas nicht stimmte.
Meine Kollegin kam an die Türe. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass etwas passiert sein musste. Mit einem Blick auf ihren Bauch stellte ich fest, dass da kein Baby mehr drinnen war.
Sie hatte Tränen in den Augen und berichtete, dass ihr Baby vor ca, 2 Tagen nach der Geburt gestorben war.
Ich kam mir so daneben vor. Wir waren keine Freundinnen, kannten einander nicht wirklich persönlich, und trete voll ins Fettnäpfli. Selber kamen mir auch die Tränen und ich versicherte ihr, dass es mir von Herzen leid täte. Falls sie jemanden zum Reden brauche, dürfe sie mich anrufen. Eine spontane Einladung lehnte ich ab, weil ich das Gefühl hatte, es wäre nicht richtig.
Ich war total aufgewühlt und rechnete nie und nimmer, dass sie mich anrufen würde. Aber etwa 2 Wochen später rief sie mich an und besuchte mich. Dort erzählte sie mir, dass beim US der Arzt sehr lange immer wieder auf den Bildschirm starrte. Fazit: Eine Untersuchung (genaues weiss ich nicht) wurde angeordnet, express mässig, da die SS eh schon weit vorgeschritten war. Sie wurden in die Praxis bestellt, wo sie erfuhren, dass ihr Kind schwerstens behindert zur Welt kommen würde. Sie erhielten Adressen von Heimen, Selbsthilfe Gruppen, etc.
Der Arzt machte sich etwas Vorwürfe, weil er sie nicht auf eine Vorgeburtliche Untersuchung (ü 35) hinwies. Aber für die Eltern hätte das nichts geändert.
Die Eltern waren am Boden zerstört und wussten wo weder vorne, noch hinten war. Kurz darauf setzten die Wehen ein. Das Kind kam zur Welt, atmete aber glaub gar nicht mehr und war schon tot. Es muss während der Geburt gestorben worden sein.
Hätten sie es schon vorher gewusst, sie hätten trotzdem nicht abgetrieben, erzählte sie mir.
Sie brachte etwa 1.5 Jahre später noch ein gesundes Kind zur Welt. Ob sie dort irgendwelche Tests machten, weiss ich nicht.
Ich verurteile niemanden, der einen Entscheid für eine Abtreibung fällt. Aber ich verurteile Leute, die öffentlich davon reden, als wäre ein behindertes Kind eine Last für die Menschheit.
Meine Mutter war immer sehr aktiv und selbständig. Leider hatte sie mit Ende 50 einen Hirnschlag und ist seither invalid. Sie ist im Rollstuhl, kann nicht mehr sprechen und nur einen Arm bewegen. Trotzallem ist sie eine frohe Frau, die viel mit uns lachen kann. Viele Leute sagen immer wieder, wie furchtbar das doch sei. Aber wenn ich sehe, wie unsere Mutter lachen kann oder sich an Dinge erinnnert, wo ich schon lange vergessen habe, sage ich mir, es ist hart, aber sie hat es akzeptiert.
Im Kopf ist sie total klar, aber sie kann sich nicht mehr ausdrücken. Wie bei einem Computer, wo die Schrift verstellt ist. Wenn man weiss, wovon sie spricht, kann man mit Raten und Aufschreiben herausfinden, was sie meint.
Ganz spannend ist ihr Orientierungssinn: Sie will immer weg gehen - mit dem Auto. Sie kennt Wege, die ich nicht kenne! Sie lotst mich hier durch, über Feldwege, dort durch und kommt IMMER am richtigen Ort an.