Wie/wann wurde Autismus diagnostiziert?

jeruscha
Dabei seit: 30.12.2003
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FJN hat das sehr schön beschrieben, obschon ich persönlich ein Befürworter von Abklärungen bin. Nur, solche Abklärungen sollten gewisse Rahmenbedingunen erfüllen, in aller erster Linie sollten die Durchführenden über das entsprechende Wissen verfügen (leider lange nicht bei allen Fachleuten der Fall, Falschdiagnosen gibt es wie Sand am Meer), und das Umfeld müsste dergestallt sein, dass mit dem Ergebnis etwas Sinnvolles erreicht werden kann.

Ich bringe da mal ein Beispiel:

Stellt euch vor, ihr findet einen jungen Vogel mit undefinierbarem Gefieder. Um zu wissen was für Futter, was für ein Umfeld er braucht, müsste man wissen, was für einen Vogel man da vor sich hat. Also befragt man am Besten eine Fachperson, zb. einen Ornithologen, nicht den Nachbarn nur weil der zufällig selber Wellensittiche hält, oder?
Das Ergebnis der Untersuchung durch den Ornithologen sagt nur etwas darüber aus, um was für einen Vogel es sich handelt und was für Bedürfnisse der Vogel hat. Es sagt nichts darüber aus, ob der Vogel besser oder schlechter ist als eine andere Vogelart.
Nun ist bekannt, um was für einen Vogel es sich handelt, ist es ein fitter, junger Allesfresser, zb. eine Amsel, dann sind seine Ansprüche an das ihn betreuende Umfeld geringer, dann darf man ihn getrost in Händen liebevoller Laien lassen. Handelt es sich aber um ein Tier, dessen Bedürfnisse viel Komplexer sind, beziehungsweise dessen Lebensraum weniger dem unseren entspricht, wird man sich überlegen müssen, wer geeignet ist ihm diese zu erfüllen, um ihm die Perspektiven auf ein gesundes Leben nicht zu schmälern.

Ich bin froh und dankbar um die Diagnosen meiner Kinder, ich habe erlebt wie einer meiner Söhne bei Bekanntgabe der Autismusdiagnose (damals war er 12) vor Erleichterung geweint hat, es hat ihn richtig geschüttelt, er sagte, er habe sein Leben lang geglaubt, es sei etwas falsch, krank, bei ihm, dabei sei er nur anders.
Meine autistischen Kinder gehen ihren Weg wie andere Kinder auch, sie sind nicht defizitär, man muss nicht an ihnen rumtherapieren und rumschrauben, es geht lediglich darum sie und ihre Bedürfnisse zu kennen und verstehen und ihnen dabei zu helfen, die Welt der Mehrheit zu verstehen und sich darin wohl zu fühlen.
claudianeu
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@jeruscha
Vielen Dank für dein Posting. Wie kam dein Sohn zu der Diagnose? Ich kann irgendwie nicht verstehen, dass man dies nicht schon früher erkennt? Hilft es ihm in der Schule wenn er nun die Diagnose hat? Mein Sohn musste schon früh erfahren, dass er anders ist, weil er in die Sprachheilschule geht und die Kinder schon früh fragten was hat er, wieso verstehen wir ihn nicht? Es hat ihm gutgetan zu erfahren, dass es auch andere Kinder gibt die es gleich erleben wie er. Was hilft es ihm nun wenn er weiss, dass er auch noch Autist ist? Er ist dann wieder anders als die Anderen, hat noch einen "Stempel" mehr? Du schreibst, dass dein Sohn keine Therapien hat, geht er in die reguläre Schule? Es heisst, dass Autisten eher einsam sind, meiner ist eigentlich nicht einsam. Klar, er hat wenig Freunde aber er braucht nicht viele, mein Mann hat auch wenige Freunde dafür ist es weniger oberflächlich als ich mit den vielen Kolleginnen.
jeruscha
Dabei seit: 30.12.2003
Beiträge: 1196
Auch wir haben erlebt, dass es ausreichend "Fachleute" gibt, die ungenügend qualifiziert sind, "Fachleute" die Therapien verordnen, nach dem Motto "nützt es nichts so schadet es nichts", was Quatsch ist.

Einer unserer Söhne war ab Geburt "Vorzeige-Autist" spätestens als er ein Jahr alt war, war bei ihm der FAll klar, abklären liessen wir ihn aber erst wegen dem Schuleintritt (er war im Sprachheilkiga).
Der andere Sohn (welcher eben erst spät diagnostiziert wurde) war auch von ganz klein auf sehr besonders, wir gerieten bei ihm in eine ziemlich negative "Testerei- und Therapierei-Spirale", seine autistischen Merkmale waren weniger offensichtlich, beziehungsweise sein Verhalten wurde Fehlinterpretiert. Er war immer "das schwierige Kind".

Es sind nicht die einzigen beiden betroffenen Kinder/Familienmitglieder bei uns. Alle gehen in Regelschulen (mit Abstechern teilweise über Sprachheilkiga/Sprachheilschule), alle sind im Berufsleben/im Studium/am Gymnasium bzw. der Jüngste in der regulären Primarschule.
Sie benötigen keine explizite Sonderbehandlung, aber für Lehrpersonen ist es einfacher zu verstehen warum sie vielleicht mal ungewöhnlich denken, handeln oder wahrnehmen. Insbesondere für die Betroffenen selber ist es wichtig zu wissen, dass ihre Andersartigkeit weder falsch, noch krank, noch ein Defizit ist, das Wissen um ihren Autismus gibt ihnen die Werkzeuge in die Hand sich zurechtzufinden, denn sie leben nun mal als Minderheit in einer Welt der neurotypischen Menschen.

Ach ja, keine Therapien ist nicht ganz korrekt ausgedrückt, einer der Söhne geht seit Jahren zu einem Psychologen, mit ihm entschlüsselt und analysiert er die für ihn befremdenden Denk- und Verhaltensweisen seiner Umwelt, vergleichbar mit einem Sprachkurs icon_wink.gif der andere geht in die Ergotherapie, mit ähnlichem Ziel, zudem ist es bei ihm wichtig eine vertraute, kompetente Fachperson in der Nähe zu haben, wenn es in der Schule mal harzt. Es geht aber in beiden Fällen nicht darum, das Kind in irgendeiner Form zu ändern.

Freunde: ja haben sie, einer hat ein paar wenige dafür sehr gute, enge Freunde, der andere viele Freunde und Kollegen, ist sehr beliebt bei allen. Dass Autisten emotionslos oder beziehungsunfähig sein sollen stimmt absolut nicht, sie haben nur meist andere Rahmenbedingungen/Bedürfnisse/Vorstellungen von Beziehung, wenn diese völlig inkompatibel sind mit ihrer Umwelt kann das zu Einsamkeit führen.
Gelöschter Benutzer
--> PN jeruscha
claudianeu
ThemenerstellerIn
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Wir sind immer noch an der Abklärung, habe mir aber vorgenommen nichts zu überstürzen denn er hatte schon so viele Abklärungen, es gibt jetzt schon x-Berichte über ihn was für sein Selbstbewusstsein auch nicht gerade förderlich ist. Er hat Freunde und ich hoffe, dass er diese auch in Zukunft hat wenn er dann wirklich die Schule wechselt. Er hat gewisse Aehnlichkeiten wie mein Mann (ist der jetzt auch Autist?) und der hat seinen Weg auch gemacht. Wie weiss ich wie kompetent die abklärende Stelle wirklich ist?
Russalka
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@claudia
DAS ist ja gerade das schwierige! icon_frown.gif
wir haben zb mit der stelle, auf die jeruscha schwört, nicht wirklich gute erfahrungen gemacht. das ist wohl immer etwas lotterie... ich für mich kann nur sagen: ich mag nicht mehr abklären! geändert hat sich NIE etwas, geschweige denn gebessert.
claudianeu
ThemenerstellerIn
Dabei seit: 06.02.2012
Beiträge: 9
@russalka
Du sprichst mir so aus dem Herzen! Auch die Tochter mussten wir schon abklären, es ist besser geworden aber sicher nicht wegen der Abklärung. Sie meint auch jetzt, es sei nur Zeitverschwendung was der Sohn nun machen muss. Und trotzdem hat man Angst, dass man etwas verpasst. Macht man nichts und es wird nicht besser kommen die nächsten Lehrer die eine Abklärung wollen oder es wird darauf hingewiesen, wieso haben sie nichts unternommen....
esprit
Dabei seit: 05.03.2008
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Ich schliesse mich Jeruscha an: Die Diagnose sollte nicht den Sinn eines "Stempels" haben, sondern helfen, dem Kind sein Leben zu erleichtern.
Seit wir wussten, dass unsere Tochter vom Asperger Syndrom betroffen ist, haben wir uns intensiv mit dem Thema befasst, konnten in der Schule einbringen, was sie braucht, worauf zu achten ist. Inzwischen hat sich auch ihr Lehrer zu einem echten Aspie-Experten gemausert, durch viel, viel Literatur und Weiterbildungskurse versteht sich, und so hat er das Know how, viele Stolpersteine im Schulalltag zu vermeiden, was wiederum dem Selbstbewusstsein und Wohlbefinden unserer Tochter sehr zuträglich ist.
Was das Störungsbewusstsein anbelangt: Unsere Tochter hat früh gemerkt, dass sie sich von vielen anderen unterscheidet. Das hat natürlich Gefühle des "Nicht-richtig-seins" ausgelöst. Sie fragte nach und wollte das Ganze ergründen. Seit der Diagnose können wir ihr Antworten geben. Sie kann inzwischen selbst nachlesen und so über sich selber reflektieren ohne sich minderwertig fühlen zu müssen. Beispielsweise äussert sie inzwischen oft:"Mami, ich bekomme beklemmende Gefühle. Aber ist ja eigentlich klar. Es ist eine Veränderung im Tagesablauf passiert und damit habe ich Mühe." Ich finde das "hammerstark" und wichtig, damit sie gesund aufwachsen kann.

Leben ist endlich. Lebe endlich!
slider12
Dabei seit: 21.01.2007
Beiträge: 3399
hab nicht alles gelesen.
kann dir von mir berichten...unsere grosse wurde auch abgeklärt. verdacht ads.

mir war das irgendwie nicht wichtig aber die schule wollte es.

es kam raus das ads bestättigt wurde aber ne seltene art für ads. und ein teil Autismus. sie ist 8.

so was ändert sich bei uns? ich hab bei der abklärung sehr viel mitnehmen können und wir können sie etwas anders nehmen bzw wir verstehen sie besser.

kleines beispiel: tochter will immer umziehen....auf die frage hin warum antwortete sie: ich hab keinen schrank im zimmer wo sie kleider versorgen kann.!

der schrank ist im gang gleich neben ihrer türe sie hat so ja mehr platz im zimmer.

nun für sie ist das ein riesen problem darum suchen wir ihr einen schrankicon_smile.gif

grüässli

nichts ist unmöglich!
GabrielaA
Dabei seit: 18.10.2002
Beiträge: 5446
Ich finde eure Berichte sehr intressant. Ich habe ja selber einen Sohn, der erst in den Sprachheilkindergarten ging und nun in eine Schule für körperbehinderte Kinder, weil er eine motorische Dyskoordination hat und eben sprachlich auffällig ist (war). Ihn an die Sprachheilschule hatten wir absolut keine Chancen, da zu dieser Zeit die Anmeldung über die KigÄ bzw. Logopädin erfolgte. Beide wussten, dass höchstens etwa 40% aller beworbenen Kinder aufgenommen würden. Jene, welche noch andere Defizite hätten, würden erst gar nicht aufgenommen.

aber, ich wäre noch nie nie auf die Idee gekommen, unser Sohn hätte Autismus. Um ehrlich zu sein, stelle ich mir wohl darunter etwas Falsches vor. Seine vorherige Lehrerin meinte, er hätte AD(H)S, was ich nicht abklären lassen wollte. Für mich wäre es wie eine Entschuldigung für seine manchmal etwas getrübte Wahrnehmung oder Konzentrationsschwierigkeiten.