Anschreien = psychische Gewalt

taraxacum
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@ Ladina

Ich erinnere mich gut, als meine ältere Tochter klein war. Sie war ein anstrengendes Kind, hat kaum geschlafen, viel geschrien, wollte immer getragen werden und brachte mich oft an meine Grenzen. Aber - sie war, wie mir scheint, schon von ganz klein SEHR verständnisvoll. Sie akzeptierte jedes nein sofort. Niemals wäre sie auf die Strasse gesprungen. Nie hätte sie Steine gegen Autos oder Sand gegen andere Kinder geworfen. Abmachungen wurden immer eingehalten, wir konnten wunderbar verhandeln. Kurz - für mich war klar, eine klare und konsequente Haltung mit Verhandlungsspielraum - das war das, was funktionieren würde. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich deine Haltung vollumfänglich bejaht und unterschrieben.

Dann trat die zweite Tochter in unser Leben - und ALLES wurde auf den Kopf gestellt. Sie rannte kopfüber auf die Strasse, riss Zweige von den Bäumen, warf mit Sand um sich, zerkratzte Autos, hielt sich kaum an Abmachungen, Verhandlungen waren unmöglich. Vielmehr warf sie sich schreiend auf den Boden - weder zureden, noch beruhigen - weder alleine lassen noch bei ihr bleiben - weder Verständnis noch Ausdruck des Ärgers.........nichts änderte die Situation. Sie bockte oder trotzte um des Trotzes willen, so schien es mir oft. Harmonische Momente waren sehr selten. Ob wir als Eltern etwas taten oder nicht taten, es war bestimmt das Falsche.

Aus diesen beiden Erfahrungen ziehe ich den Schluss, dass die Möglichkeiten, ein Kind zu begleiten so individuell (sein sollen) sind, wie die Kinder selber.

Ich bin froh, verhält sich die heute 15jährige nicht mehr toujours so, wie sie dies als 2,3,...Jährige tat icon_smile.gif....es ist heute um einiges ruhiger und harmonischer geworden! Sie hat sich zu einer verhandlungswilligen jungen Frau entwickelt, die zum Glück noch immer ihren Trotzkopf hat. Im Gegensatz zum Kleinkindalter hat sie heute die Worte zur Verfügung, die ihr damals fehlten. So kann sie ihre Achterbahn der Gefühle manchmal mitteilen - was den Umgang mit ihr um einiges erleichtert.

[Dieser Beitrag wurde 1mal bearbeitet, zuletzt am 13.03.2013 um 10:17.]

Wisse immer was du sagst, aber sage nicht immer, was du weisst.
*Ladina
ThemenerstellerIn
Dabei seit: 04.10.2002
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Liebe taraxacum

Ja - natürlich sind Kinder verschieden - Du beschreibst das übrigens sehr schön - und ich kann mir vorstellen, dass das eine ziemlich schwierige Zeit war - ABER -

oder SUPER - Du schreibst nirgends davon, dass Du, durch das "andere" Verhalten Deiner zweiten Tochter, dazu berechtigt warst, Dein Kind anzuschreien oder ähnliches. ("Wir sind halt eine laute Familie"icon_wink.gif

Sondern - ich bin sicher - dass Du Dein zweites Kind genauso "gleich-würdig" begleitet hast ... sonst wäre Deine 15-jährige heute nicht - Zitat "um einiges ruhiger und harmonischer" ...

LG *L

Erfolg ist die beste Rache
Blue64
Dabei seit: 20.08.2003
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taraxacum - Hätte oder hat das Anschreien etwas verändert, positiv? Hat oder hätte anschreien sie "zur Vernunft" gebracht?

Nein, davon bin ich überzeugt ...

Aber ihr hat oder hätte es das Gefühl vermittelt, jemand zu sein, der nervt, der lästig ist, der ungewollt ist so, wie er ist, den man übertönen muss, damit man ihn ja nicht hört!

Eben: anschreien ist nutzlos und destruktiv ....

Ich denke, also bin ich hier falsch !
taraxacum
Dabei seit: 27.01.2004
Beiträge: 1317
Hmmm.....sicher bringt anschreien nichts, da gehe ich mit euch absolut einig. Ich denke jedoch, dass ich meine Tochter aus lauter Hilflosigkeit, Wut oder Trauer auch angeschrien habe. Hat's geholfen? kaum. Hat's geschadet? ich weiss es nicht. War es richtig? sicher nicht.

Wichtig scheint mir, dass wir uns jederzeit bewusst sind, dass wir Menschen sind. Menschen, die Fehler machen. Menschen, die unüberlegt handeln. Menschen, die überfordert sein können. Menschen, die hilflos sein können. Menschen, etwas machen, das beim Gegenüber u.U. "Schaden" anrichtet.
Genau so wichtig scheint es mir, dass wir uns auch bewusst sein dürfen, dass wir Fehler machen DÜRFEN, dass wir Mensch sein DÜRFEN.

Wisse immer was du sagst, aber sage nicht immer, was du weisst.
Blue64
Dabei seit: 20.08.2003
Beiträge: 1456
taraxacum, eingeschränkt hast du Recht.

Nur erwarte ich von halbwegs intelligenten Menschen, dass sie immer neue Fehler machen, um daraus zu lernen und nicht den gleichen immer wieder.

Heisst, es kann mal vorkommen, dass man schreit, aber Mann und Frau sollten daraus lernen, sollten erkennen, dass man auf Dauer damit nichts erreicht.

Und glaube mir, ich kann heute nicht mehr zählen, wie oft ich im Schlafzimmer an die Schranktür geschlagen habe, in den Polster geschrieen habe, oder einfach im leeren Schlafzimmer losgeschrieen habe ... aber meine Kleinen anschreien, nein. Und nun, in ihrer Halbwüchsigkeit und am Beginn der Pubertät erst recht nicht - damit disqualifiziere ich mich selbst und erreiche nur, dass ich nicht ernst genommen werde.

Ja, wir sind Menschen, ja, wir dürfen Fehler machen, aber wir sollten daraus lernen und jeden Fehler nur einmal - max. zweimal - machen!

Ich denke, also bin ich hier falsch !
taraxacum
Dabei seit: 27.01.2004
Beiträge: 1317
Ich meine, es geht in der Diskussion nicht darum, dass wir nicht lernwillig sind. Aus keinem Posting habe ich gelesen, dass Fehler unreflektiert wiederholt werden. Vielmehr verstehe ich, dass sich alle ihre Gedanken machen, daran nagen, dass sie Fehler machen und sich dabei eher schlecht fühlen.

Und dann sind da ein paar Postings die bei mir so ankommen, als dass ich niemals meine Stimme erheben dürfe, dass ich immer schön ruhig und ausgeglichen sein müsse. Das empfinde ich als unrealistisch.

Ich denke, im Grundtenor sind wir uns alle einige - schreien ist nicht ok. Sollte meine Stimme dennoch überborden ist es zentral, dass ich mir überlege, dass dies nicht wieder vorkommt.

Wisse immer was du sagst, aber sage nicht immer, was du weisst.
Andromeda
Dabei seit: 25.08.2009
Beiträge: 250
@Taraxacum
Du sprichst mir aus der Seele. Ich finde sowieso, dass man sein Verhalten immer wieder überdenken sollte. Nicht nur das den Kinder gegenüber, allgemein.

Mich würde mal wundernehmen, wie ihr denn schwierige Situationen mit euren Kindern meistert. Was sagt ihr? Wie verhaltet ihr euch?

Schlussendlich kommt es ja nicht allein auf ein lautes Umfeld an, sondern wie man dem Kind etwas vermittelt. Ist jedes laut sein schon psychische Gewalt?
hoppla
Dabei seit: 06.02.2006
Beiträge: 558
Taraxacum, du schreibst sehr schön und ich erkenne mich in deinen Texten wieder. Wunderbar, wie du formulieren kannst, was ich fühle und denke.
Blue64
Dabei seit: 20.08.2003
Beiträge: 1456
"taraxacum" schrieb:

Vielmehr verstehe ich, dass sich alle ihre Gedanken machen, daran nagen, dass sie Fehler machen und sich dabei eher schlecht fühlen.

Ich denke, im Grundtenor sind wir uns alle einige - schreien ist nicht ok. Sollte meine Stimme dennoch überborden ist es zentral, dass ich mir überlege, dass dies nicht wieder vorkommt.



Hm, ich lese Postings, die voll der Rechtfertigungen sind, die meinen, Pubertät gäbe den Eltern das Recht, immer wieder mal laut zu werden, die erklären, dass es nun mal schwierige Kinder gibt, die einfach nur dann reagieren, wenn Mama und /oder Papa laut werden, etc. .

Tja ....

Ich denke, also bin ich hier falsch !
hoppla
Dabei seit: 06.02.2006
Beiträge: 558
Ich lese auch andere Postings. Ohne Rechtfertigungen. Mit der klaren Aussage, es ist nicht in Ordnung. Mit dem klaren Willen, etwas zu verändern. Mit dem Eingeständnis, dass es nicht immer gelingt.