Unter dem Zitronenbaum

Moderator Florian
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Blog von Ümit Yoker vom 28. August 2015
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Unter dem Zitronenbaum

Warum es wirklich nicht meine Schuld ist, dass meine Kinder sich mit Smartphones vergnügen.

Die Südländer sind ja auch nicht mehr, was sie einmal waren. Während mein türkischer Vater und meine Schweizer Mutter beim Fernsehkonsum ihrer Tochter noch klare Positionen vertraten – Er: Geht doch total in Ordnung, Sie: Kommt mir nicht ins Haus –, scheinen wir uns heute kulturübergreifend einig zu sein: Kleinen Kindern einfach ein Smartphone in die Hand zu drücken, das geht gar nicht. Und wenn sie es doch tun, beschleicht portugiesische Mütter dasselbe ungute Gefühl wie ihre Schweizer Genossinnen, das weiss ich mittlerweile aus erster Hand. In meinem Fall ist es nun aber so, dass ich tatsächlich nichts dafür kann, dass meine Buben auf dem Handy regelmässig virtuelle Puzzleteile zusammenfügen oder nachschauen, was eigentlich Bob, der Baumeister, so treibt.

Es war, wie soll ich sagen, eine Entscheidung, die mich aus heiterem Himmel traf. Aber ich muss dazu vielleicht ein wenig ausholen: Wir waren bei der Grossmutter meines Mannes zu Besuch, ein Sommervormittag, warm, aber noch nicht heiss. In ihrem Garten stand ein Zitronenbaum. Unter diesen wollte ich mich gerade legen, als es mich auf einmal zu blenden beginnt und eine Stimme ertönt, die die saftiggrünen Blättchen des Zitronenbaumes allesamt erzittern lässt: «Du!», dröhnt die Stimme, «Du Mutter zweier Kleinkinder! Buch oder Tablet? Papier oder Bildschirm? Sag mir, womit sollen deine Buben aufwachsen?». Ich halte mein Smartphone in die Sonne, um zu sehen, wer sich hinter dem gleissenden Licht verbirg, aber da ist es schon zu spät. «So denn!» spricht die Stimme, hebt mein Telefon mit einem Pusten in die Höhe und lässt es wieder zu Boden fallen, «du hast dich entschieden.» Ich schaue nach, ob das Display noch ganz ist und entgegne leise: «Aber.. aber, ich dachte immer, man könne beides haben. Sie.. Du.. Du weisst, was ich meine. Ich dachte, ich könnte meine Kinder ab und zu einen Trickfilm schauen lassen und ihnen trotzdem abends aus ihrem Lieblingsbuch eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen. «Hohohoho!», grölt die Stimme. «Mumpitz! Du hast für deine Kinder die Schnellbahnstrasse der technologischen Verdammnis gewählt, davon zweigen keine hübschen Kiesweglein ab, die sie zum Zoowärter führen, der sein Bett mit einem Gorilla und einem Mäuschen teilt, oder dieser Raupe, die sich sogar durch Wassermelonen frisst. Bestimmt hast du auch noch diese App, bei der man auf Bilder von Hunden oder Flamingos drücken kann und dann die passenden Tierlaute dazu erklingen.» «Ja, genau! Toll, oder! Ich erkläre meinen Söhnen dann jeweils, was für ein Tier das ist, und dann.. Übrigens haben wir ganz viele Geschichten zuhause, meine Tante arbeitet bei Orell Füssli in der Kinderbuchabteilung und wählt immer die schönsten für uns aus!» «Orell Füssli, Schmorell Füssli! Paperlapapp!», fällt mir die Stimme ins Wort. «Haben deine Kinder denn schon einmal ein Schaf gestreichelt? Wissen sie, wie es in einem Kuhstall riecht?»

Ich will gerade vom Garten der Grossmutter meines Mannes erzählen und dass dort auch ein kleiner Stall steht, mit Hühnern drin und einem Schwein, aber da ist die Stimme schon weg und die Früchte am Zitronenbaum haben aufgehört zu schaukeln. Erschöpft lege ich mich unter den Baum und scrolle durch die neusten Posts auf meiner Facebookseite. Jemand hat einen Aufruf geteilt, in dem nach lustigen Post-its gesucht wird, die Eltern ihrem Nachwuchs im Alltag so hinterlassen. In einem Kommentar dazu schreibt eine Mutter, derartige Zettel habe sie nicht vorzuweisen, sie rede eben noch mit ihren Kindern. Ich schrecke von meinem Schattenplätzchen auf. Es ist also nicht nur der technische Fortschritt, der in der kindlichen Entwicklung irreparable Schäden hinterlässt, sondern auch die schriftliche Kommunikation? Wie von Sinnen renne ich die knapp zweihundertfünfzig Kilometer vom Heimatdorf meines Mannes zurück nach Lissabon, ich stürze in unsere Wohnung, packe Notizhefte, Post-its, Handys, Laptops, Flachbildschirmfernseher, Moleskinebüchlein und die Wachsschreibtafel ein, die wir damals in der Primarschule gebastelt hatten, als in Geschichte die Römer dran waren. Zurück im Garten meiner angeheirateten Grossmutter werfe ich alles unter den Zitronenbaum und zünde den Haufen an. Wenn ihr ganz weit nach Westen schaut, seht ihr es vielleicht noch lodern.

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Den Blog findest du online unter http://www.wireltern.ch/artikel/blog-unter-dem-zitronenbaum
Blue64
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Beiträge: 1456
Die Geschichte gefällt mir👍 - sie moralisiert nicht, aber trotzdem muss man unwillkürlich nachdenken, sein tag-tägliches Handel hinterfragen!
Merci vielmals!

Ich denke, also bin ich hier falsch !
KlaraM
Dabei seit: 01.03.2013
Beiträge: 1770
Na also, geht doch! Ein schöner Beitrag.