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Stampfen und brüllen tut den Kindern gut – und auch den Eltern
Für Familientherapeut Jesper Juul kann Aggression Ausdruck sinnvoller Kommunikation sein.
Aggressives kindliches Verhalten ist zu Unrecht verpönt, Eltern müssten Wutausbrüche aushalten. Auch die Eltern sollen sich vor Kindern nicht immer beherrschen. Kinder brauchen Eltern mit echten Gefühlen, sagt Erziehungswissenschafter Jesper Juul von Walter Schmidt
Neulich, auf einem Spielplatz: Die Eltern wollen los. Die Mutter ruft ihrer Fünfjährigen zu: «Kommst du bitte, wir gehen nach Hause!» Doch die Kleine kommt nicht. Als die Mutter darauf besteht, nun aufzubrechen, beginnt das Mädchen zu weinen, stampft wütend mit dem Fuss auf und schreit: «Ich will nicht gehen, ich will noch spielen!» Bis dahin ein ganz alltäglicher Konflikt zwischen Eltern und Kindern. Doch dann entgegnet die Mutter: «Eben habe ich dich beim Papa noch so gelobt dafür, wie brav du heute gewesen bist, und jetzt hast du alles wieder kaputtgemacht!»
Aus dieser Reaktion lernt das Kind, dass Wut etwas Übles ist. Und dass man die Mutter enttäuscht, wenn man nicht lieb und artig ist. Und enttäuschen wollen jüngere Kinder ihre Eltern um fast keinen Preis. Denn sie brauchen ihre Liebe unbedingt, weil sie von ihr völlig abhängig sind. Wenn die Mama immer in gleicher Weise auf Gestampfe und Geschrei reagiert, nämlich betrübt über ihr «ungezogenes» Kind, dann stehen die Chancen gut, dass aus diesem lebendigen Mädchen mit seinem eigenen Willen ein überaus angepasster Mensch wird, der sein Leben lang Probleme mit aggressivem Verhalten haben wird.
Auch Eltern sollen Wut zeigen
Aggression gilt landläufig als negativ, und Wut bei Kindern verstört viele Eltern. Doch wie Familientherapeut Jesper Juul in seinem neuen Buch schreibt, setzt das Aggressionstabu «die geistige Gesundheit von Kindern sowie ihr Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen aufs Spiel». Der Däne beklagt die «Tendenz, jede bedeutsame Emotion in unseren Familienhäusern und Tagesstätten unwillkommen zu heissen», ausgenommen das sogenannte Glücklichsein.
Ein «schwieriges» Kind zu haben, sei «der ultimative Albtraum für die Grosszahl der Eltern», weiss der international renommierte Erziehungswissenschafter. Auch Lehrer glaubten immer noch daran, «dass leicht zu handhabende Kinder gesunde Kinder sind». Dabei sei doch die «Essenz geistiger und sozialer Gesundheit» die Fähigkeit, «Nein zu sagen, wenn man Nein meint, und Ja zu sagen, wenn man Ja meint». Auch das sei ja Ausdruck einer sinnvollen Aggression: einzutreten für das, was man will, und unmissverständlich abzulehnen, wogegen man ist.
Viele Erwachsene meinen, sich gegenüber ihren Kindern stets beherrschen zu müssen. Doch für Juul ist es falsch, Unmut zu verstecken. Er ist der Überzeugung, dass die «Gewalt der Freundlichkeit und Korrektheit» bei Kindern mehr Schaden anrichten kann als ein ehrlicher Wutausbruch. Kinder brauchen Erwachsene mit echten Gefühlen. Wie sonst sollten sie auch lernen, mit ehrlicher Aggression umzugehen, fremder wie eigener?
Auch der Mediziner und Neurobiologe Joachim Bauer fände es schlimm, wenn Kinder nie wütend sein und ihren Ärger oder Zorn auch einmal herausschreien dürften. «Natürlich dürfen sie das», bekräftigt der Sachbuchautor von der Uniklinik Freiburg. Aus seiner Sicht dient Aggression schlichtweg der Kommunikation; sie signalisiere nämlich, «dass ein von Schmerz oder Ausgrenzung betroffenes Individuum nicht bereit und nicht in der Lage ist, eine ihm zugefügte soziale Zurückweisung zu akzeptieren». Bauer ist überzeugt, dass erfolgreich kommunizierte Aggression konstruktiv ist.
Die Wut zulassen
Doch wie der Salzburger Psychiater Manfred Stelzig anmerkt, werde den Kleinen häufig vermittelt, dass schon die Wucht ihres Auftretens etwas Schlechtes sei. «Das Kind lernt dann, dass es gar nicht mehr aggressiv sein darf», sagt Stelzig. «Es beginnt Erlebnisse, die aggressiv machen, in sich hineinzufressen.»
Gesünder wäre es, wenn die Kinder ihre Wut im Körper spüren und ausagieren dürften; wenn ihnen also gestattet würde, auch einmal durchzudrehen, solange sie dabei keine Wohnzimmer-Stühle umwerfen oder Porzellan vom Tisch fegen und schon gar nicht sich selbst oder andere verletzen. Doch viele Eltern ertragen es nicht, in Ruhe bei ihrem wutschnaubenden Kind zu sein und darauf zu vertrauen, dass es sich bald beruhigen wird. Das liegt auch daran, dass sie selbst sich ständig bremsen, um Fassung ringen und den Ärger schlucken.
Kein Wunder, dass Fachkliniken eigens Räume mit gepolsterten Wänden bereithalten, damit sich gehemmte Wut nach Jahren des Niederhaltens endlich einmal entladen darf: Besser man löst alte Gefühle spät als nie. Und besser natürlich, man tritt dabei gegen weiche Wände, als leibhaftig gegen einen brutalen Vater – oder gegen eine Mutter, die früher bei jedem Protest ihres Söhnchens listig säuselte: «Magst du nicht wieder Mamis lieber Bub sein?» Auch das ist übrigens sehr aggressiv, bloss gut getarnt und hinterhältig.
Literatur
Jesper Juul «Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist», 2013, S. Fischer Verlag.
Joachim Bauer «Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt», 2013, Heyne Verlag.
(Die Nordwestschweiz)