"Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten!" Gibt es eine Ausnahme von 8.Gebot für die Schule? Sind Schulzeugnisse keine Zeugnisse? Muss man als Lehrer nur alle vergebenen Noten zusammenzählen und den Durchschnitt ausrechnen und das ist dann das "Zeugnis"? Was bezeugt man denn über sich selbst, dadurch dass man ein Zeugnis gibt? Geben wir wirklich Zeugnis für das Kind oder geht es nur um den mustergültigen Vollzug papierener Vorschriften?
Als Ich-kann-Schule-Lehrer sehe ich das Zeugnisgeben als verbindlichen persönlichen Akt. In der Pädagogik sehe ich hier beträchlichen Lernbedarf. Ich finde es nicht verständlich, dass bei einem Unglückszeugnis immer zuerst daran gedacht wird, "das Kind abzuklären", und dass überhaupt nie daran gedacht wird, die ausgeübte Pädagogik und die Pädagogen mindestens ebenso sorgfältig "abzuklären". Wenn wir es bei der gewohnten Einseitigkeit belassen, machen wir die Kinder zum Objekt, und das ist vollkommen unpädagogisch.
Was KayaAngelina beschreibt, würde ich konstruktive Pädagogik nennen. Ihr Interesse gilt den Talenten ihres Kindes und sie sucht nach guten Angeboten, diese Talente herauszulocken und zu entwickeln. So sollte Pädagogik sein.
Wie läuft das in der Schule? Die Lehrerin hat einen ganz anderen, geradezu entgegengesetzten Auftrag. Sie muss dauernd versuchen, das ihr Aufgetragene in das Kind hineinzubekommen. Dieser Grundauftrag der Schule ist die dümmstmögliche Pädagogik überhaupt. Da es alle brav machen und mitmachen und nie hinterfragen, fällt dieser Unsinn gar nicht auf. Jeder tut brav seine Pflicht und keiner versteht, warum es immer schlimmer wird, je besser man es macht.
Meine Kritik richtet sich also nicht gegen die Lehrerin, im Gegenteil, sondern gegen ihre Vorgabe. Ich finde, unsere Lehrer hätten einen anderen Auftrag entwickelt, der sich an der erfolgreichen Vorgabe der Mütter orientieren sollte.
KayaAngelina hat hier eine gute Entwicklung angebahnt und der "pädagogische Auftrag" hat diese plattgewalzt.
Wenn ich einen Menschen plattwalze und dann "abkläre", ob mit ihm etwas nicht in Ordnung ist, müssen das seine misshandelten Seelenkräfte als mehr als zynisch erleben. Hier muss doch endlich einmal Menschlichkeit geschehen und nicht noch mehr gesteigerte Sachlichkeit. Meine Seele würde da jedenfalls frieren und sie würde sich mit ihren feinen und genialen Talenten zurückziehen - egal was da irgendwelche "Nichtsversteher" draußen "abklären".
Das Wichtigste, was ich dem Kind immer wieder sagen würde, ist: "Du bist OK. Ich habe große Achtung vor allen Deinen Talenten. Sie werden sich garantiert entwickeln und wachsen. Da werden alle noch staunen!" Wenn man sensible - und das sind die besten - Talente erst einmal vergrault hat, kommen sie nur sehr zaghaft und vorsichtig zurück. Da tut man gut daran, sich demonstrativ an ihre Seite zu stellen und verlässlich zu ihnen zu halten. Genau das wäre ja der wichtigste pädagogische Auftrag, dass das Kind vom Beispiel der Erwachsenen lernt, seinen eigenen Kräften immer treu zu bleiben. Es ist arg, wenn wir schon Kinder dazu bringen - und dann auch noch damit allein lassen - sich für manche ihrer sensiblen Talente zu schämen. Genau diese Talente brauchen unsere verlässliche Solidarität und unseren Glauben an ihre gute Entwicklung.
Ich schlage vor, dass Ihr nicht nur den Talenten des Kindes sondern den Talenten aller Beteiligten das zudenkt, was ihnen für eine gute Gesamtentwicklung noch fehlt. Ich freue mich auf Euren Erfolg.
Franz Josef Neffe
"Wenn ich Sie in dem Irrtum lasse, dass ich es bin, der Sie gesund macht, dann mindere ich Ihre Persönlichkeit!" Émile Coué