vielen dank lamale und watoto für den märchenpädagogischen input. ich finds noch interessant und werde mich noch weiter reinwühlen, was ich suchte war eher diese richtung:
Sehr viele Eltern sind nicht bereit, ihren Kindern zu sagen, daß vieles, was im Leben nicht richtig ist, seine Ursache in unserer Natur hat, in der Neigung aller Menschen, aus Zorn und Angst aggressiv, unsozial, egoistisch zu handeln. Unsere Kinder sollen vielmehr glauben, alle Menschen seien von Natur aus gut. Kinder wissen aber, daß sie nicht immer gut sind; und oft, wenn sie es sind, wären sie es lieber nicht. Dies widerspricht dem, was sie von den Eltern hören, und auf diese Weise kann ein Kind in seinen eigenen Augen zum Ungeheuer werden.
In unserer Kultur besteht die Neigung, besonders wenn es um Kinder geht, so zu tun, als existiere die dunkle Seite des Menschen nicht. Sie verkündet einen optimistischen Fortschrittsglauben. Von der Psychoanalyse erwartet man, daß sie das Leben leicht machen solle, aber dies war nicht die Absicht ihres Begründers. Ziel der Psychoanalyse ist es, dem Menschen zu helfen, das Problematische des Lebens zu akzeptieren, ohne sich davon besiegen zu lassen oder in eine eskapistische Haltung auszuweichen.
Genau diese Botschaft vermittelt das Märchen dem Kind in vielfältiger Weise: Der Kampf gegen die heftigen Schwierigkeiten des Lebens ist unvermeidlich und gehört untrennbar zur menschlichen Existenz, wenn man aber nicht davor zurückschreckt, sondern den unerwarteten und oft ungerechten Bedrängnissen standhaft gegenübertritt, überwindet man alle Hindernisse und geht schließlich als Sieger aus dem Kampf hervor.
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Es ist charakteristisch für das Märchen, daß es ein existentielles Dilemma kurz und pointiert feststellt. Das Kind befaßt sich also mit dem Problem in seiner wesentlichen Gestalt; eine komplizierte Handlung wäre nur verwirrend. Das Märchen vereinfacht alle Situationen. Seine Gestalten sind klar gezeichnet; Einzelheiten werden nur erzählt, wenn sie sehr wichtig sind. Die Charaktere sind nicht einmalig, sondern typisch.
Im Gegensatz zum Inhalt vieler moderner Kindergeschichten ist im Märchen das Böse so gegenwärtig wie das Gute. In fast allen Märchen sind Gut und Böse in bestimmten Figuren und ihren Handlungen verkörpert – so wie Gut und Böse auch im Leben jederzeit gegenwärtig sind und wie der Hang zu beidem in jedem Menschen liegt. Gerade diese Zweiheit verursacht das moralische Problem und erfordert den Kampf um seine Lösung.
Das Böse ist nicht ohne Faszination – es wird zum Beispiel durch die Kraft des Riesen oder Drachen, die Zauberkunst der Hexe oder die Allwissenheit der Königin in >Schneewittchen< symbolisiert –, und oft gewinnt es vorübergehend die Oberhand. In vielen Märchen nimmt zeitweilig ein Usurpator den Platz ein, der rechtmäßig dem Helden zukommt. Nicht weil der Bösewicht am Ende bestraft wird, trägt die Lektüre von Märchen zur moralischen Erziehung bei – obgleich das auch dazugehört. Im Märchen wie im Leben wirkt Bestrafung oder Angst davor in begrenztem Maße abschreckend. Die Überzeugung, daß sich das Verbrechen nicht auszahlt, ist ein wirksameres Abschreckungsmittel, und aus diesem Grund unterliegt der Böse im Märchen am Ende immer. Nicht die Tatsache, daß die Tugend am Ende siegt, fördert die Moral, sondern daß der Held für das Kind am attraktivsten ist. Das Kind identifiziert sich mit dem Helden; es durchleidet mit ihm alle Mühen und Wirrsale und triumphiert mit ihm, wenn die Tugend schließlich belohnt wird. Diese Identifikation vollzieht das Kind von sich aus; die innere und äußeren Kämpfe des Helden bilden seine Moral.
Die Gestalten im Märchen sind nicht ambivalent, also nicht gut und böse zugleich, wie wir alle es in Wirklichkeit sind. Da aber Polarisierung den kindlichen Geist beherrscht, hat sie auch im Märchen Vorrang.
http://kindergeschichten.wordpress.com/2007/12/13/das-marchen-und-das-existentiale-dilemma-b-bettelheim/